
Rückblick auf das AG Panel auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Medienwissenschaften (Bonn, 2023).
Medienwissenschaftliches Arbeiten setzt sich kontinuierlich mit den historischen, politischen und wissensgeschichtlichen Bedingungen ihres Gegenstandes und ihrer Methoden auseinander und ist zugleich aber auch aufgefordert, nach den eigenen Voraussetzungen und Reflexionsmöglichkeiten der Produktion wissenschaftlichen Wissens durch und mit Medien zu fragen. Angesichts der vielfältigen Interdependenzen zwischen der Genese und Funktion von Medien und historisch situierten Wissens- und Wissenschaftspraktiken stellt sich immer wieder die Frage, wie diese Zusammenhänge thematisiert und fokussiert werden können. Ein möglicher Zugang besteht in der kritischen Reflexion des eigenen Kanons bzw. der als kanonisch verstandenen Texte, Theorien und Methoden. Die Thematisierung des mehr oder weniger bewussten Kanons reicht dabei von der Reflexion als gesetzt angenommener Forschungsperspektiven, über unausgesprochenen Konsens in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit und Zitationspraxis, bis hin zur Lehre und Vermittlung „kanonischer“ Grundlagen.
Diese Fragen haben wir als jüngst reaktivierte AG zum Ausgangspunkt dafür genommen, um das Verhältnis von Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung/-geschichte zu befragen. Im Kontext der GfM-Jahrestagung 2023 zum Thema „Abhängigkeiten“ haben wir eine fortlaufende Auseinandersetzung initiiert, in deren Verlauf wir ausloten wollen, inwiefern die Wissenschaftsforschung in der Medienwissenschaft ihren eigenen Kanon hinterfragen und dazu beitragen kann, die historischen, eurozentrischen und sozio-politischen Bedingungen der eigenen Wissenstradition sichtbar zu machen. Den Anstoß dazu hatten neben der Konsolidierung der AG und ersten gemeinsamen Aktivitäten auch die produktive Arbeit des Forums Antirassismus und Medienwissenschaft (FAM) sowie des Arbeitskreises Kanonkritik geboten, ebenso wie die Feststellung von Jiré Emine Gözen, dass Kanonkritik nicht „an einer Arbeit an aber auch mit dem Kanon“ vorbei kommt (Gözen 2023) und sich gerade darin als fortlaufende und nicht abschließende Praxis auszeichnet.
Ziel des AG-Panels auf der GfM 2023 und der ersten Diskussion war es weniger, die Kanonbildung zwischen Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung umfassend zu kartographieren oder grundsätzlich zu kritisieren, sondern vielmehr ein offenes Gesprächsformat zu erproben, in dem die AG-Mitglieder aus ihren jeweiligen disziplinären Schwerpunkten und heterogenen Forschungs- und Lehrkontexten für sie relevante wie zu kritisierende Texte zur Diskussion stellen konnten. Mit der Diskussion einer situierten und ausschnitthaften Auswahl sollten die persönlichen Arbeitsschwerpunkte der AG-Mitglieder miteinander ins Gespräch gebracht und mögliche Formate für eine weitere Auseinandersetzung ausgelotet werden. Die Teilnehmenden des Panels hatten jeweils zwei Texte ausgewählt, die sie in einem kurzen Statement vorgestellt und die Gründe für ihre Auswahl und Bedeutung für die eigene Arbeit dargelegt haben. Dabei hatten wir in der Planung explizit nicht danach gefragt all time classics vorzustellen, sondern über Texte und Ansätze zu sprechen, die in der eigenen wissenschaftlichen Praxis immer wieder auftauchen und zu denen sich kritische und ambivalente Anschlüsse ergeben.
Überraschend, aber nicht unerwartet in der Auswahl wichtiger Bezüge zwischen Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung waren beispielswiese die unterschiedlichen Bezüge zu Bruno Latour. Gerade die sehr heterogenen und unterschiedlichen, teils kritischen teils konstruktiven Re-Lektüren konnten in der anschließenden Diskussion besprochen und reflektiert werden. So wurde Kanonisierung während des Panels als unbewusster und implizite Strukturen und Muster bestätigender Prozess anschaulich. Jedoch war genau dies mitunter Intention des Panels, denn in der Diskussion wurde auch deutlich, dass die Bezugnahme auf kanonische Positionen eben nicht zwangsläufig in einem affirmativen oder emphatischen Sinne geschieht. In den vorgeschlagenen Anschlusslektüren und kritischen Anmerkungen ist deutlich geworden, dass sich kanonische Texte für die Teilnehmenden und Mitdiskutierenden auch durch ihre Ambivalenz und Diskussionswürdigkeit auszeichnen.
Das Panel hat die AG-interne Auseinandersetzung mit unbewussten kanonischen Positionen medienwissenschaftlicher Praxis angestoßen. Ohne die Arbeit und Diskussion im Anschluss an die Tagung in ein Format, eine Literaturliste oder ein gemeinsames Arbeitsprogramm überführen zu können, haben sich jedoch Möglichkeiten für Anschlussformate und weitere Diskussionen eröffnet. Ab 2024 wird es in einer regelmäßigen Lektüregruppe, auch darum gehen, das Text- und Theoriefeld an der Schnittstelle von Medienwissenschaft und Wissenschaftsforschung in der Lehre genauer zu befragen. Darüber hinaus gibt es Ideen, das Format in angepasster Form und in anderen Kontexten zu wiederholen und so die Diskussion persönlich-kanonischer Texte weiterzuführen.
Alle Interessierten sind dazu eingeladen, sich zu beteiligen und eigene Vorschläge einzubringen (Kontakt gerne per email).